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Kollegen berichten über ihre Erdbebenhilfe in Pakistan
Niemals so viel Traurigkeit gesehen

NIEDERKASSEL – Wie schon nach dem Tsunami in Südasien waren Ärzte der Hilfsorganisation humedica auch nach dem schweren Erdbeben in Pakistan Ersthelfer im Krisengebiet.

Das erste Ärzteteam unter Leitung von Allgemeinmediziner Georg Müller aus Solms bei Wetzlar startete am 9. Oktober, einen Tag nach dem Beben, und war zehn Tage lang im Einsatz. Die Ärzte behandelten nach Angaben von humedica bis zu 700 Patienten täglich im Distriktkrankenhaus von Mansehra. Darüber hinaus war das Team mit einer mobilen Klinik außerhalb der Stadt unterwegs. Müller spricht von „schlimmsten Zuständen“ und erzählt von einem sechsjährigen Jun­gen, dem eine Oberschenkel-Fraktur nur notdürftig mit Pappe geschient worden war.

Unmittelbar neben dem Epizentrum im Einsatz

Der Hausarzt Dr. Michael Brinkmann aus Niederkassel (bei Bonn) kam mit einer folgenden Ärz­testaffel am 22. Oktober in Mansehra an. Zum Team gehörten neben ihm zwei Chirurgen, eine Kinderärztin, eine junge Ärztin noch ohne Facharztausbildung sowie fünf Krankenpfleger und -schwestern. Mit dabei waren auch zwei Vertreter der „Apotheker ohne Grenzen“, die die Arzneimittelversorgung organisierten.

Täglich startete die Gruppe vom humedica-Basislager in Mansehra aus zu ihren Einsätzen in die sich anschließende Bergregion. Enge, fast baumlose Täler, steile Hänge, brüchiges Gestein, die verschütteten Straßen und Ortschaften mitten im Hang, so beschreibt Dr. Brinkmann die Gegend, in der die Ärzte arbeiteten. Zum ersten Einsatzort auf 1500 Metern Höhe gelangte das Ärzteteam noch mit Fahrzeugen auf dem Landweg. Der zweite Einsatzort, unmittelbar neben dem Epizentrum des Bebens, lag auf 1800 Metern Höhe und konnte nur per Helikopter erreicht werden. Steinschläge erschwerten die Arbeit, ausgelöst durch Nachbeben, bei denen, wie Dr. Brinkmann sagt, „einem tief im Innern sehr angst wird“. Zuerst sei das Grollen unter den Füßen immer unheilvoller und lauter zu hören gewesen, dann habe der Boden immer stärker gebebt, und zuletzt habe sogar der Horizont hin und her geschaukelt. „Ein wahrlich ungutes Gefühl“, so der Arzt.

Nur Schwerverletzte in Kliniken geflogen

Behandelt werden mussten häufig Brüche und infizierte Wunden, aber auch Pneumonien, Amöbenruhr und vereinzelt Cholera. Mit Spritzen war es möglich, Patienten bis zu einer halben Stunde in Narkose zu versetzen. Nur die Schwerverletzten flog das Militär in Krankenhäuser. „Häufig waren Finger zu amputie­ren oder Hände mit abgequetschten, entzündeten Fingern zu versorgen“, so Dr. Brinkmann. Das sei typisch für Erdbebengebiete, weil hier die Menschen mit bloßen Händen nach verschütteten Angehörigen graben und verrutschende Steine und Platten oft die Finger verletzen. Nach einem Masernausbruch im zweiten Lager impften die Ärzte 500 Kinder. Das Serum schickte die WHO.

Die Kranken – vielfach auf provisorischen Tragen zum Standort der Ärzte gebracht – seien sehr dankbar für die Hilfe gewesen, so Dr. Brinkmann. Zugleich allerdings habe er noch nie so eine unglaubliche Traurigkeit gesehen wie hier in dieser Bergregion. Fast alle Bewohner hätten Angehörige verloren und sehr viel Leid erfahren. „Normalerweise können wir neben unserer ärztlichen Arbeit auch ein klein wenig Freude bringen. Doch diesmal haben nicht einmal unsere Seifenblasen die Starre und Teilnahmslosigkeit bei den Kindern durchbrechen können. Sie blieben einfach nur still.“ Die Menschen seien zutiefst traumatisiert, sagt Dr. Brinkmann, der auch schon bei Hilfseinsätzen in Kriegsgebieten wie Ruanda, Irak und Kurdistan Schlimmes gesehen hat.

Wie im Gebirge den Winter überleben?

Zwei Wochen war der nordrheinische Allgemeinmediziner in Pakistan. Seit kurzem ist er zurück, und er ist froh, wieder bei seinen Kindern und seiner Frau zu sein. Dennoch, auf den deutschen Alltag umschalten, das fällt ihm schwer. Zu sehr beschäftigt ihn das, was er erlebt hat: „Wie kann man den sichtbaren Schmerz einer jungen Mutter vergessen, die acht Stunden neben ihrem toten Neugeborenen eingeschlossen war? Das geht nicht.“ Hinzu komme die Gewissheit, dass viele der Menschen in der kargen, trostlosen Gebirgsregion den kommenden Winter nicht über­leben werden. „Die Lage ist wirklich dramatisch“, sagt Dr. Brinkmann, „neben weiterer medizinischer Hilfe fehlen dringend Nahrungsmittel, aber vor allem Winterzelte, Decken und Heizmöglichkeiten.“ Der Arzt bittet deshalb seine Kollegen, die Arbeit von humedica finanziell zu unterstützen. Cornelia Kolbeck

Medical Tribune · 40. Jahrgang · Nr. 47 · 25. November 2005

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